Hans-Bernd Zöllner nahm den evangelischen Reformationstag zum Anlass, die aktuelle Lage in Myanmar aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.
Die Regierung Myanmars unter Führung Aung San Suu Kyis steht seit einigen Monaten auf Grund der Krise in Rakhine weltweit unter heftiger Kritik, während ihre Haltung im Lande selbst fast einhellig unterstützt wird. Dieser – am Reformationstag 2017 verfasste – Essay beschreibt diesen Gegensatz als das Ergebnis einer nicht vollzogenen Reformation und mangelnden Aufklärung auf beiden Seiten.
In Deutschland und anderen Ländern des beileibe nicht mehr nur christlichen Abendlandes wird dieser Tage des 500-jährigen Reformationsjubiläums gedacht. In Myanmar herrscht nach Meinung vieler durch die Massenflucht von Muslimen nach Bangladesch alarmierten ausländischen Beobachter nach wie vor der Geist des Mittelalters. „Aung San Suu Kyis Unfähigkeit, den Massenmord, Gruppenvergewaltigungen und die schweren Menschenrechtsverletzungen in Rakhine zu verurteilen, ist unentschuldbar und unannehmbar.“ (The Guardian; aufgerufen am 21.11.2017) So begründeten Studierende des St Hughs Colleges an der Universität Oxford, an der Aung San Suu Kyi studiert hatte, ihren Entschluss, ihren Namen als Bezeichnung eines Gemeinschaftsraums der Uni zu entfernen. Zur Begründung hieß es, dass Aung San Suu Kyi gegen alle Prinzipien und Ideale verstoßen habe, die sie früher so aufrecht vertreten habe.
Bei meinem jüngsten Besuch in Myanmar ist mir aufgefallen, dass sich das ganze Land hinter seiner „Führerin“ versammelt, wie sie jetzt wieder auf einem am Hauptquartier ihrer Partei verkauften T-Shirt von ihren AnhängerInnen genannt wird, mit Ausnahme einer schweigenden Minderheit, die sich nicht äußert. Es gibt keine öffentlichen Diskurse über die Haltung der buddhistischen Mehrheit im Lande den Muslim*Innen gegenüber, wohl aber jede Menge oft nur in Nebensätzen ausgesprochene Vorurteile, in denen die Furcht vor der „muslimischen Gefahr“ benannt wird.
Ihre vielen heutigen Kritiker*Innen könnten sich darauf berufen, dass Aung San Suu Kyi als Reformatorin auftrat, als sie 1990 in ihrer Dankesrede für die Verleihung des Sacharov-Preises das buddhistische Ideal der „Freiheit von Furcht“ als Grundlage ihres politischen Programms verkündete. Daran wird aber heute nicht erinnert. Stattdessen beruft man sich – wie die Oxford-Studierenden – auf universelle „Menschenrechte“ ohne zu begründen, wo diese ihren Ursprung haben. Damit, so die in diesem Essay begründete These, sind die Kritiker*Innen ebenso unaufgeklärt wie die Mehrheit der Gesellschaft Myanmars und anderer theravada-buddhistischer Länder, in denen es zwar viele Reformator*Innen und Aufklärer*Innen gegeben hat, aber keine grundlegend gesellschaftstransformierenden Epochen wie Reformation und die Aufklärung – eines der Kinder der Reformation. Die Unaufgeklärtheit vieler heutiger Kritiker*Innen liegt darin, dass sie die Aufklärung zu einer quasi religiösen Ideologie haben verkommen lassen. (Anm.: Siehe zu den geistesgeschichtlichen Hintergründen den Wikipedia-Artikel „Dialektik der Aufklärung“)
Reformator*Innen und Aufklärer*Innen in Myanmars Geschichte
Aung San Suu Kyi erhebt zweifellos den Anspruch, ihr Land zu reformieren, und zwar auf Grundlage der im Lande tief verwurzelten buddhistischen Traditionen. Dabei hat sie in einem Essay aus dem Jahr 1989 auf das Ideal des ersten „Großen Gewählten“ (maha-sammata) der buddhistischen Schriften zurückgegriffen, der – einstimmig und auf Lebenszeit gewählt – das Land kraft seiner Tugend, Weisheit und der ihm vom Volk übertragenen Autorität gerecht regiert. Maßstab seines Handelns ist der dhamma, die Lehre des Buddha, ein Gesetz, das über allen menschlichen Gesetzen steht und von dem Erleuchteten verkörpert wird.
Ein Blick auf die lange politische Geschichte Myanmars zeigt, dass sich dieses Herrschaftsideal durch die wechselhafte Geschichte des Landes als ein empirisch nachweisbarer roter Faden hindurchzieht – und dass diese Kontinuität auch hilft, die historischen Tragödien Myanmars zu verstehen.
Der Begründer Bagans, Anawrahta, begann nach den birmanischen Chroniken seinen Aufstieg mit der Tötung seines Bruders in einem Zweikampf um die Nachfolge des Vaters. Seitdem ist die politische Geschichte des Landes die Geschichte von Zweikämpfen, zuletzt und für viele bis heute, der zwischen Aung San Suu Kyi und den Generälen. Um dem Land eine ebenso harmonische wie die individuelle Freiheit betonende Ideologie zu geben, machte der große König – in der Nachfolge des buddhistischen Modell-Herrschers Ashoka – den Theravada-Buddhismus zur dominierenden Religion seines Reiches. Das tat er nach der Begegnung mit Shin Arahan, einem Mönch aus dem Mon-Land im Süden. Von dort aus holte er auch den Tipitaka, die heiligen buddhistischen Schriften. Dazu war allerdings die Eroberung der Mon-Hauptstadt Thaton und die Gefangennahme seines Königs Manuha nötig, in dessen Folge zahlreiche Mon-HandwerkerInnen und Arbeitskräfte nach Bagan kamen. Damit waren die Grundlagen für den bis heute andauernden Streit zwischen Birman*Innen und Mon um die kulturelle Oberhoheit im Lande mitsamt ihren politischen Implikationen gelegt. Das Gleiche gilt für Rakhine, dessen Unterwerfung 1785 durch die Überführung des Mahamuni-Buddha-Abbilds in die damalige Hauptstadt Amarapura besiegelt wurde.
In der Folge der Reichsgründung durch Anawrahta erfolgten Reformen in der langen Geschichte der buddhistischen Königreiche immer von oben. In der Theorie waren die Herrscher*Innen an der Spitze des Reiches immer gut, in der Praxis konnte man da nie so sicher sein. Die Folgen schlagen sich in den birmanischen Spruchsammlungen wie dem Lokaniti nieder, in denen min – König, Regierung – als einer der fünf Feinde des Volkes nach Feuer und Wasserfluten erwähnt wird.
Aung San, der Begründer des „modernen“ Birmas, wurde dann vom Volk als eine erneute Verkörperung des Maha-sammata angesehen – wie in seiner Nachfolge auch seine Tochter. Er vertrat einen ausgesprochen aufgeklärten Buddhismus auf der Grundlage seiner philosophischen Einsichten in die Natur der Welt und der Menschen und vertrat eine strikte Trennung von Religion und Politik. Seine Ermordung – sein Konkurrent U Saw nutzte ein modernes Mittel des Zweikampfes – und die Einsetzung seines, dem Volksbuddhismus verhafteten, Nachfolgers U Nu beendeten den kurzen Traum von einem birmanischen Vielvölkerstaat unter der Anleitung eines ebenso gerechten wie durchsetzungsfähigen Führers.
Vor diesem Hintergrund ist Aung San Suu Kyi in den Augen ihrer AnhängerInnen im Lande die Personifizierung einer gerechten Herrschaft auf buddhistischer Grundlage. In einer weiteren Rede zur aktuellen Krise hat sie dann auch die „buddhistischen Grundwerte“ von metta, karuna and mudita (Freundlichkeit, Mitleid und Sympathie) bemüht, um ihre Landsleute zur Hilfe für die von den Konflikten betroffenen Menschen im Rakhine-Staat und in Bangladesch zu bewegen. (Siehe: http://www.burmalibrary.org/docs23/NLM-2017-10-13-NRS.pdf, aufgerufen 24.11.2017)
Das große westliche Missverständnis
Die von Aung San Suu Kyi genannten Kategorien klingen ähnlich wie die im Abendland an- und aufgerufenen Grundwerte von Mitmenschlichkeit und Gerechtigkeit. Der große Unterschied besteht darin, dass diese buddhistischen Werte – wie auch das traditionelle buddhistische Herrschaftsmodell – rein individuell-personal konzipiert sind und ihnen damit das Moment der Einklagbarkeit fehlt, dass dem Begriff der „Menschenrechte“ innewohnt. Aung San Suu Kyi bemüht ausschließlich die moralischen Menschenpflichten. Dazu kommt, dass die in Myanmar tief verwurzelte Kultur des Gebens (dana) von reformatorisch gesinnten Ausländern oft als eine Variante des mittelalterlichen Ablasses angesehen wird.
Die Mehrheit der Buddhist*Innen im heutigen Myanmar wehrt sich dagegen, dass ihnen von außen Konzepte aufgedrückt werden, die ihrer traditionellen Kultur und ihren gesellschaftlichen Folgen widersprechen. Sie betrachten die von außen kommende Verurteilung ihrer heutigen Haltung gewissermaßen als eine Fortsetzung der britischen Kolonialherrschaft, die dem Land die massenhafte Einwanderung von Fremden aus Indien und China, aber keinerlei eigene Vorteile gebracht hat.
Ein Problem der westlichen Kritik an den Vorgängen in Myanmar ist, dass sie für diese Hintergründe der momentanen Tragödie der muslimischen Flüchtlinge aus Rakhine weitgehend blind ist. Dieser Mangel ist leicht zu erklären. Die fünf Länder Asiens, in denen der Theravada-Buddhismus so etwas wie die Nationalreligion ist, sind in ihren religions-politischen Konturen außerhalb des kleinen Kreises von Südostasienexperten so gut wie unbekannt. In Huntingtons berühmt-berüchtigten Buch vom „Kampf der Zivilisationen“ – die deutsche Übersetzung „Kampf der Kulturen“ ist schon fragwürdig – etwa kommen die auf dieser Ausprägung des Buddhismus beruhenden Zivilisationen nicht vor.
Damit wird außer Acht gelassen, dass diesen Ländern von den Kolonialmächten – wie in vielen anderen Ländern Asiens und Afrikas auch – ein Konzept von „Nation“ aufoktroyiert wurde, für das dort eine entscheidende Grundlage fehlte: die eines die ganze Gesellschaft transformierenden Reformprozesses, der das Verhältnis des Einzelnen zu Staat und Nation revolutioniert hat.
Myanmar fehlen sowohl historisch wie faktisch alle Voraussetzungen für eine Nation als eine „imaginierte Gemeinschaft“, mit der Benedikt Anderson das ebenso erfolgreiche wie gefährliche Konzept der Nation charakterisiert hat. Es gibt im Lande keine gemeinsame Vorstellung von den Grundlagen dieses Landes, die in den Köpfen und Herzen der BürgerInnen aus den verschiedenen Ethnien verankert wären. Was es gibt, ist ein Staatsbürgerrecht, dass seit der Unabhängigkeit 1948 die Staatsbürgerschaft ohne weiteren Nachweis denen zuerkennt, deren Vorfahren schon vor der Kolonialzeit – konkret: vor dem Beginn des ersten anglo-birmanischen Krieges im Jahr 1824 – in den Grenzen der unabhängig gewordenen britischen Kolonie Birmas gelebt haben. InderInnen und ChinesInnen, gleich welcher ethnischen und religiösen Zugehörigkeit, wurden damit von Anfang an ausgegrenzt. Solche Ausgrenzungen gehören zum Kern aller Staatsbürgerrechte moderner Nationen. Unabhängig von den konkreten Verfahren, mit denen die Frage der Staatsbürgerschaft in der Praxis zu unterschiedlichen Zeiten geregelt wurde, war ihr Status als „Bürger Birmas“ nicht eindeutig.
Dies und vieles andere wissen weder die protestierenden Studierenden in Oxford noch die meisten JournalistInnen und PolitikerInnen, die sich jetzt mit dem Schicksal der bedauernswerten Geflüchteten befassen. Die Kritik an der Regierung Myanmars ist in diesem Sinne das Ergebnis einer unvollendeten Aufklärung der Grundlagen der vorgebrachten Kritik.
Schluss- und Nachbemerkung
Vor diesem Hintergrund sind die KontrahentInnen im gegenwärtigen Streit um die Lage in Myanmar – die Mehrheit der veröffentlichen Meinungen im Westen wie im Lande selbst – das Ergebnis von unvollendeten Reformprozessen. Physische Opfer dieses doppelten Mangels sind die etwa eine Million Menschen in Myanmar und Bangladesch, die bei uns als „Rohingya“ Schlagzeilen machen, ohne dass den meisten derer, die diese Begriffe verwenden, genau klar ist, wen oder was dieser Begriff beschreibt. Das ist besonders bemerkenswert, weil Ignoranz (Pali: avijja), im westlichen Sinne also Mangel an Aufklärung, in der buddhistischen Lehre vom abhängigen Entstehen den Weg hin zum Leiden (dukkha) eröffnet.
Da diese höchst betrübliche Analyse von einem lutherischen Theologen am Reformationstag 2017 geschrieben wurde, ist noch eine Nachbemerkung angebracht. Die meisten Christ*Innen sowie die Muslim*Innen im Lande teilen den hier skizzierten reformatorischen Mangel. Es wäre daher angebracht, diesen 31. Oktober in erster Linie als einen Bußtag zu begehen.
Quellen
Zur politischen Kultur Myanmars: Hans Bernd Zöllner und Rodion Ebbighausen 2015 Die Tochter. Aung San Suu Kyi. Eine politische Biographie. Angermünde, Horlemann.
Zur Rakhine-Problematik hat Jacques Leider eine Fülle von Beiträgen geleistet, zuletzt ein am 25. September 2017 veröffentlichtes Interview. Siehe https://www.linkedin.com/pulse/despite-pressures-myanmar-government-should-abandon-long-term-zayya/.
Zum Konzept der national races (taingyintha) in Myanmar hat Nick Cheesman jüngst einen Artikel veröffentlicht: „How in Myanmar „National Races“ came to Surpass Citizenship and Exclude Rohingya“. Journal of Contemporary Asia 2017.
Header image by Joe Le Merou (via Flickr)
Hans-Bernd Zöllner ist Theologe und Südostasienwissenschaftler und publiziert seit 1993 zu Birma und Myanmar. Einer seiner Schwerpunkte sind die Beziehungen zwischen Myanmar und der Außenwelt.